6.1. Wo muss Social Media Marketing aufhören weil Stalking anfängt?

 

Das Problem wird vereinzelt auch in der BWL erkannt. So schreibt Prof. Dr. Heike Simmet von der Hochschule Bremerhaven auf ihrer Website: „.. die Grenzen zwischen einer willkommenen digitalen Kommunikation der Unternehmen und einem unerwünschten Stalking aus der Sicht der Kunden sind fließend. So wird bereits das aus Vertriebssicht äußerst effiziente Retargeting, also die Wiederansprache von Interessenten im Internet zur Erhöhung der Klick- und Konversionsrate von einer wachsenden Anzahl von Menschen nicht mehr als positiv wahrgenommene Erinnerungsfunktion, sondern als penetrantes Aufdrängen empfunden. Und auch die traditionelle Bannerwerbung wird von immer mehr Kunden längst entweder bereits völlig ausgeblendet oder zumindest schnell weggeklickt.“ (H. Simmet, Personalisierung in der digitalen Kommunikation: Willkommene Information oder unerwünschtes Stalking?, http://hsimmet.com/2015/01/27/personalisierung-in-der-digitalen-kommunikation-willkommene-information-oder-unerwunschtes-stalking/, 23.09.15) An dieser Stelle soll aber wegen der Fürsorgepflicht für die Praktikanten die strafrechtliche Würdigung thematisiert werden. Die Anordnung des Arbeitgebers schützt nicht vor einer möglichen Strafverfolgung.

  

Stalking ist u.a. in § 238 Abs. 1 Nr. 2 + 5 StGB (Nachstellung) wie folgt geregelt: „Wer einem Menschen unbefugt nachstellt, indem er beharrlich … (2) unter Verwendung von Telekommunikationsmitteln oder sonstigen Mitteln der Kommunikation oder über Dritte Kontakt zu ihm herzustellen versucht, … (5) eine andere vergleichbare Handlung vornimmt und dadurch seine Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Es ist zu prüfen, ob dieser Tatbestand mindestens in extremen Fällen des Social Media Marketings verwirklicht wird. Nr. 5 ist ein Auffangtatbestand. Für die hier erörterte Abgrenzung von Social-Media-Marketing und Stalking wären nur die mit Nr. 2 vergleichbaren Handlungen relevant.

  

„Social-Media-Marketing .. ist das gezielte Marketing über soziale Netzwerke.“ (Erwin Lammenett, Praxiswissen Online-Marketing, 5. Auflage, Wiesbaden 2015, S. 243) Hier erfolgt eine Kontaktaufnahme durch den Werbenden, während bei der traditionellen Werbung in der Öffentlichkeit nur Aufmerksamkeit erzeugt werden soll, damit der potentielle Kunde Kontakt aufnimmt. Damit könnte der Tatbestand des § 238 Abs. 1 Nr. 2 StGB durch Social Media Marketing verwirklicht werden. Die Kontaktaufnahme muss aber unbefugt und beharrlich sein und den Adressaten in seiner Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigen.

  

Die Kontaktaufnahme ist nicht unbefugt, wenn sie vom Adressaten gewünscht oder positiv erwidert wird (= nachträgliche Genehmigung). Darf der Werbende glauben, die Kontaktaufnahme sei erwünscht, so kann ein Erlaubnistatbestandsirrtum nach § 16 StGB vorliegen und zur Straffreiheit führen. Weil dem Verfasser aus Gesprächen mit Praktikanten berichtet wurde, dass eine Öffnungsquote für e-mail-Werbung (einschl. Newsletter) von 8 % als hoch eingeschätzt wurde, müssen die Werbenden erkennen, dass weit mehr als 90 % der Werbung unerwünscht war. Hier kann sich also niemand auf einen Irrtum nach § 16 StGB berufen. Die Tat wird somit vorsätzlich begangen, wenn keine ausdrückliche Einwilligung des Adressaten vorliegt. Die Kontaktaufnahme ist dann i.S.v. § 238 StGB unbefugt.

  

Beim unerwünschten Öffnen zusätzlicher Werbeseiten beim Surfen muss die Erlaubnis des Webseitenbetreibers vorliegen, auf der geworben wird. Der Adressat der Werbung hat diese Seite aktiv aufgerufen; mit ihm wurde kein Kontakt aufgenommen. Die Werbung ist dann eine bloße Belästigung und keine verbotene Kontaktaufnahme. Ob ein Unternehmen viel Geld ausgeben will, um die Öffentlichkeit zu belästigen und damit mögliche Kunden abzuschrecken statt sie zu werben ist dessen freie Entscheidung.

  

Die Nachstellung muss auch beharrlich sein. „Beharrlichkeit liegt somit bei bloßer Wiederholung noch nicht vor.“ (Landesinitiative Stalking NRW e. V., Erläuterung der Tatbestandsmerkmale des § 238 StGB, http://www.stalking-nrw.de/index.php/recht/grundtatbestand/tatbestand, 23.09.15) Wie Häufig die Wiederholung ausfallen muss ist immer eine Frage des Einzelfalls und z.B. auch von der Deutlichkeit der Zurückweisung abhängig. Bei der Werbung mittels Computervirus dürfte überhaupt keine Zurückweisung erforderlich sein weil der Urheber dies mit technischen Mitteln verhindert. Sie ist immer beharrlich. Hier könnte aber auch §§ 202a oder 303a + b StGB einschlägig sein. Die bloße Zusendung unerwünschter e-mails muss dagegen schon eine starke Häufigkeit aufweisen, um beharrlich zu sein.

  

Das größte Hindernis für die Strafbarkeit ist die „schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensumstände“. Die Nachstellung muss für die Beeinträchtigung kausal sein. Sie muss so gravierend sein, dass sie nicht einfach ignoriert werden kann. Eine Nur-Belästigung reicht nicht aus. Die Beeinträchtigung dürfte aber schwerwiegend sein, wenn sich das Opfer durch die Belästigung gezwungen sieht, seine Lebensgewohnheiten zu ändern. Dann wäre auch der Straftatbestand der Nötigung nach § 240 StGB erfüllt, sofern die Belästigung als Bedrohung oder (psychische) Gewalt zu werten wäre. Einige der von Praktikanten geschilderten Praktiken des Social Media Marketings könnte man so einschätzen. Der gleiche Strafrahmen von §§ 238 und 240 StGB lässt aber auch den Willen des Gesetzgebers erkennen, die gewaltsame und gewaltlose Nötigung gleich zu behandeln. Die durch die Belästigung erzwungene Verhaltensänderung muss dann als „schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensumstände“ genügen, denn eine mit Drohung oder Gewalt erzwungene Verhaltensänderung wäre auch strafbar.

  

Andere schwerwiegende Beeinträchtigungen können z.B. in der häufigen Störung der Nachtruhe (wenn nachts das Handy wegen Werbe-SMS klingelt) liegen. Die schwerwiegende Beeinträchtigung muss nicht das Ausmaß einer Gesundheitsschädigung erreichen, die nach Abs. 2 mit einer härteren Strafe bedroht und im Übrigen schon nach § 223 StGB als Körperverletzung erfasst wird. Der Meinung der Landesinitiative Stalking NRW, das Opfer müsse durch die Handlungen des Täters in Angst, Panik und psychische Bedrängnis versetzt werden, kann sich der Verfasser in Bezug auf das einfache Stalking nach Abs. 1 deshalb nicht anschließen.

 

Social-Media-Marketing muss also spätestens dort aufhören, wo ein an den Werbebotschaften nicht interessierter Empfänger in seiner Lebensführung gestört und nicht nur belästigt würde.

 

Die Tat wird nach § 9 Abs. 1 StGB in Deutschland begangen, wenn der Erfolg der Tat (schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensumstände) in Deutschland eintritt. Dass die Werbung ggf. von einem ausländischen Server verschickt wird hilft dem Täter nicht. Werden die Werbebotschaften aus dem Inland ins Ausland geschickt, damit eine andere Person die Opfer aus dem Ausland belästigt, wird der Inländer nach § 26 StGB wegen Anstiftung wie ein Täter bestraft. Die Strafverfolgung kann also auf diesem Weg nicht umgangen werden. Die Strafverfolgung wird höchstens durch die Untätigkeit der Staatsanwaltschaften verhindert, die wegen Arbeitsüberlastung Delikte mit geringer Strafandrohung praktisch nicht mehr verfolgen.

  

Schließlich wäre zu diskutieren, ob die Gründung einer Social-Media-Marketing-Agentur oder eine Tätigkeit für solche Unternehmen nach § 129 Abs. 1 StGB als Bildung einer kriminellen Vereinigung gewertet werden kann. („Wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Straftaten zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt oder sie unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“) Ein Unternehmen, das Stalking zum seinem Geschäft macht, ist eine auf die Begehung von Straftaten gerichtete Vereinigung. Seine Arbeitnehmer sind als Unterstützer anzusehen. Das kann aber wohl nur dann vorliegen, wenn das überwiegenden Geschäft dieses Unternehmens in einem aggressiven Social-Media-Marketing besteht, das eindeutig als Stalking zu werten wäre.